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Verlass, Vertrauen und Selbstständigkeit

Christian Schlein leitet den Pflegedienst im Haus Ruth in Berlin Pankow. Zusammen mit Ursula Frentsch, Einrichtungsleitung, und Sieghard Anger, Leiter der Betreuung, hat er das Haus erfolgreich durch das Krisenjahr 2020 geführt – und dennoch: Sie wirken erschöpft. Es war eine enorme emotionale Herausforderung, und noch ist die Krise nicht überwunden. 


Wenn Christian Schlein ein Wort oder Gefühl für das 2020 finden müsste, würde er "lehrreich" sagen. Er wählt dieses Wort ohne zu zögern. Sieghard Anger ergänzt trocken: "Wir waren die Geisel des Virus." Aus diesen entwaffnenden, ehrlichen Worten spricht eine pure Verzweiflung. Der Pflegedienstleiter von Haus Ruth lenkt aber etwas ein: "Das Jahr hat auch Gutes hervorgebracht: Wir sind durch die Erfahrungen gestärkt und auch geübter in vielen Dingen." Sieghard Anger jedoch beschränkt "das Gute", was ihm widerfahren ist, nur auf den privaten Bereich. "Die Arbeit hingegen war sehr anstrengend. Wir haben in der Zeit allerdings viel gelernt, zum Beispiel, dass man über seinen Schatten springen und mehr schaffen kann als man denkt. Und Werte wurden wichtig: Wir haben nämlich auch gelernt, dass wir uns aufeinander verlassen können." Also doch etwas Positives. 

 

Wenn er auf 2020 zurückblickt, zieht Christian Schlein einen bemerkenswerten Vergleich herbei: "Ich bin seit 21 Jahren im EDBTL. In dieser langen Zeit habe ich, wie Herr Anger schon beschrieben hat, gelernt, dass Verlass, Vertrauen und Selbstständigkeit den Kern einer guten Zusammenarbeit bilden. Und genau das haben wir hier! Und deshalb kann ich sagen, dass es im letzten Jahr durchaus auch schöne Momente gegeben hat. Wir haben zusammengehalten und die Sache durchgezogen. Es hat mich zeitweise an einen Kriegseinsatz erinnert – wir waren wie Kameraden, die eine Mission durchziehen."

 

Eine interessante Gegenüberstellung. Aber so scheint es sich angefühlt zu haben für die Mitarbeitenden in Haus Ruth. Denn schließlich belastet sie seit weit über einem Jahr mit der Pandemie. Schon im Januar 2020 gab es die ersten Erkrankungen, die zuerst für Erkältungen gehalten wurden. "Aber was sollten wir machen?" fragt Christian Schlein. "Es gab noch keine Tests. Der erste große Schock war dann, als die Einrichtung für Besucher geschlossen werden musste, das war der 13. März. Am 24. März hatten wir die erste Corona-Diagnose. Der massive Befall nahm dann seinen Lauf. Alles, was wir Mitarbeiter, die Bewohner und die Angehörigen erlebt haben, überstieg meine Vorstellungskraft. Wissen Sie, wir haben regelrecht gekämpft für Tests, sodass wir flächendeckend alle 84 Bewohner versorgen können! Aber es hat an allem gemangelt: Desinfektionsmittel, Schutzkleidung. Eine Maskenlieferung vom Berliner Senat wurde zurückgerufen, wir mussten auf dem Schwarzmarkt einkaufen – alles absurd. Unsere Geschäftsführung, Pia Reisert und Michael Blümchen, haben uns nach allen Möglichkeiten unterstützt."

 

Etwas für die Geschichtsbücher. Das hat sich diese Generation wahrscheinlich nicht träumen lassen. Christian Schlein kann aber auch auf berührende Erlebnisse zurückblicken: "Es gab in der Zeit echt tolle Aktionen, die die Seele der Bewohner – und auch unsere – gestreichelt haben: Kinder haben Briefe an die alten Menschen geschrieben und mit Kreide tolle Bilder auf den Fußweg vor unseren Fenstern gemalt. Die Bewohner konnten von oben zuschauen. Sie hätten mal die Freude in den Gesichtern sehen sollen! Dann hatten wir auch einen Drehorgelspieler, der um das Haus gezogen ist. Angehörige haben Kuchen vorbeigebracht – und sogar selbstgenähte Masken und Desinfektionsmittel."

 

Unvermeidbar war allerdings, dass die Mitarbeitenden, die täglich einer Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind, von Angst beschlichen werden. Der Pflegedienstleiter bejaht das: "Die Angst schwang auf jeden Fall mit. Wir sind ja viel gewohnt, aber als die Bewohner ganz offensichtlich und plötzlich an etwas völlig Neuem erkrankt und teilweise auch verstorben sind, hat das natürlich viele von uns verängstigt. Wir hatten keine Zeit, darüber nachzudenken, wir haben immer weitergemacht." Auch wie in einer kriegsähnlichen Situation. "Aber die Kollegen haben gemerkt, dass wir uns kümmern. Der Frust kam erst einige Monate später: Ich meine, die Regierung hatte einen ganzen Sommer lang Zeit, um die Personalnot zu kompensieren und in die Preistreiberei einzugreifen! Und rein gar nichts ist passiert."

 

Die Wut ist spürbar und nachvollziehbar. Sie wird im Gespräch nicht schwächer. Und als Sieghard Anger erklärt, dass es ja nicht anders ging, dass sie nun mal durchhalten mussten, auch als sie völlig isoliert waren, geht er auf die Situation der Bewohner von Haus Ruth ein: "Die Bewohner haben gesagt, dass sie so was noch nicht erlebt haben. Manche haben sogar gemeint, dass nicht mal die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg so schlimm gewesen seien." Christian Schlein bestätigt das. Bewohner hätten ihm dasselbe erzählt: "Sie konnten während der Quarantäne ja nicht mal auf den Flur. Wenn wir sie in voller Schutzmontur im Zimmer besucht haben, haben sie meistens apathisch aus dem Fenster geguckt. Sie sind richtiggehend müde geworden und haben sehr abgebaut. Bewohner sind auch bei uns verstorben, und nicht mal eine adäquate Sterbebegleitung war in dieser Zeit möglich." Er klingt sehr traurig. "Aber man muss mit der neuen Situation umgehen, die Bedrohung bleibt schließlich."

 

Ein aufreibendes Jahr war das. Aber ohne Optimismus geht es auch beim Team Anger-Schlein nicht: "Ich bin auf meine Mitarbeiter stolz, nichts kann sie umhauen! Und ich bin dankbar für die Unterstützung meiner Geschäftsführung zu jeder Tages- und Nachtzeit." Sieghard Anger hatte selbst Corona. Jetzt sagt er: "Ich war so froh, dass nach meiner Infektion die Lunge nicht angegriffen war. Und was großartig war, war die Solidarität, die vor allem auch Angehörige gezeigt haben! Und besonders dankbar bin ich für unsere 2020er Weihnachtsfeier: Wir haben an vier Tagen gefeiert, staffelweise. Das haben wir nicht für selbstverständlich genommen. Aber wenn ich jetzt einen Wunsch frei hätte, dann wäre das Urlaub!" Christian Schlein erklärt abschließend: "Die Zeit hat uns sehr mitgenommen. Ich wünsche mir jetzt für die Mitarbeiter, dass sie Zeit bekommen, das Corona-Jahr aufzuarbeiten. Und ansonsten: einmal kräftig durchatmen, denn der Zug fährt weiter, und die Erinnerung verblasst."

 

 

 

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